Auf der Suche nach dem einen Raum – die Urhütte

Charles Eisen: Frontispiz zu Laugiers 'Essai sur l'architecture', 1755.
Charles Eisen: Frontispiz zu Laugiers ‚Essai sur l’architecture‘, 1755.

Das Thema ist so alt wie die Geschichte der Architektur, denn es ist das Grundmotiv des Bauens. Auch wenn die Fragestellung nach dem minimalsten Obdach, das der Mensch sich selbst errichten kann, heute inmitten schillernder Bauikonen und leidenschaftsloser Monotonie in Vergessenheit geraten zu sein scheint, birgt sie nach wie vor die Antwort auf die wesentliche Herausforderung der Architektur: Im primordialen Einraum (Tugurium) wird die Komplexität des Bauens auf seine grundlegenden Eigenschaften reduziert; in der Schaffung des einen Raumes liegt das Gebot der Einfachheit und Elementarität, wie es inzwischen von Normen, Ansprüchen und allerhand bauinhärenten aber architekturfernen Faktoren zum Imperativ des Fortschritts geworden ist. Im Zeitalter, da die Reproduzierbarkeit dank digitaler Technik neue Höhen erreicht hat, die Unmittelbarkeit des humanen Empfindens von der Sterilität der Maschine zunehmend verdrängt wird, gleicht der Blick auf die einst vielbeschworene Urhütte einer Lichtung im Dickicht.

Der Jesuitenpriester und Architekturtheoretiker Marc-Antoine Laugier veröffentlichte jedoch bereits 1753 seinen Essai sur l’architecture mit dem er einen Angriff auf die von Geschmacks- und Stilfragen erschöpften Debatten seiner Zeit startete, der gerade heute wieder aktuell erscheint, da er den Blick für die Prinzipien der Vernunft schärft. Dabei ist vor allem die zweite Ausgabe seiner Polemik interessant, da er in ihr den Eifer seiner Kritiker mit der Veröffentlichung eines von Charles Eisen gefertigten und überaus suggestiven Kupferstichs konterte. Das als Frontispiz gewählte Werk zeigt die Muse Architektur auf den Überresten einer ionischen Ordnung ruhend mit einem Zirkel in der linken Hand, während sie mit ihrer Rechten zur primitiven Hütte, einem Gebilde aus Baumstämmen und Ästen weist, so als wolle sie die Aufmerksamkeit von allen bisherigen stilistischen Überlegungen hin zu einer wesentlicheren Auseinandersetzung mit der Architektur lenken. Obwohl diese Urhütte seit Vitruv Gegenstand architekturgeschichtlicher Beschäftigung ist, vermag erst Laugier ihre strukturelle Klarheit wieder umfänglich zu verdeutlichen. Für ihn ist sie die Verkörperung einer architektonischen Wahrheit, die nicht nur am Ende des Barock, sondern auch heute vielerorten verloren scheint. Alle architektonischen Glanztaten und Hochgefühle lassen sich letztlich auf dieses einfache, von Charles Eisen so suggestiv illustrierte Bild zurückführen. Nur durch das Bewusstsein für die diese einfache bauliche Schöpfung, dieses grundsätzlichen Nenners der Architektur, können die Fehler einer entwurzelten, geradezu verselbständigten Baupraxis vermieden werden. Es ist das Bewusstsein für die logische Unbedingtheit der Urhütte, die als frühestes Exempel der festen und unabänderlichen Regeln menschlicher Raumerzeugung, den Bestand und den Sinn der Architektur bewahrt. Vier Stützen und ein Dach, Urprinzip des Bauens und Kompass des Architekten; für Laugier gleicht die Urhütte einem Naturgesetz, das der Künstlichkeit der modernen Gesellschaft als Korrektiv zur Seite tritt.

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