Brutalismus?

Brutalismus?

Jede Auseinandersetzung mit dem Brutalismus muss zwangsläufig mit einem Versuch der Definition beginnen. Und tatsächlich, in der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts finden sich bereits mehrere Ansätze, die sich daran abarbeiten und in ihren Auswirkungen gerade im Hinblick auf Klassifikation, Einordnung und Bewahrung des Bauerbes bis in das 21. Jahrhundert reichen. Was sich mit ziemlicher Sicherheit jedoch festhalten lässt, ist, dass eine wie auch immer geartete und letztlich definierte brutalistische Architektur eine Architektur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist und ihre Entstehung und Entwicklung eng mit dem Aufkommen des modernen Wohlfahrtsstaates verbunden ist, sei es innerhalb einer kapitalistischen oder sei es innerhalb einer kommunistischen Gesellschafts- und Staatsordnung.

Besonders anschaulich ist Le Corbusiers brutalistischer Ansatz, weil er unmittelbar auf eine begriffliche und ästhetische Interdependenz zurückgreift. Demnach habe der schweizerisch-französische Meister bei der Realisation seines Projekts für die Unité d’Habitation in Marseille (1946-52) einsehen müssen, dass die sichtbar belassenen Betonoberflächen seines Gebäudes mit den seinerzeit vorhandenen technischen Mitteln nicht die gewünschte glatte bzw. homogene Qualität erhalten konnten. Woraufhin Le Corbusier das Ergebnis ästhetisierte, indem er in Marseille den Beton so belies wie er aus der Schalung kam und ihn fortan brut (frz. Grob, rau) nannte. Bei seinem Projekt für die Maisons Joul (1956) kombinierte er indes die rauen Betonoberflächen mit grobgehauenem und etwas schroff verlegtem Ziegel, um dem Gebäude eine archaische, wie vorgefundene Erscheinung zu verleihen. Beide Bauwerke Le Corbusiers erwiesen sich in der Folge als sehr einflussreich, insbesondere etwa für die Arbeiten von James Gowan, Kunio Maekawa, Paul Rudolph und James Stirling.

Ein weiterer, etwa zeitgleicher Ansatz zur Erklärung des Brutalismus knüpft an Le Corbusiers Prinzip der Zurschaustellung von unvollkommen wirkenden Oberflächentexturen, indem der Begriff der Exposition auf andere Materialien und auch Bauteile bis hin zur Gebäudetechnik ausgeweitet wird. Gerade das Zurschaustellen der seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wieder zunehmenden Stahlbaukonstruktionen im Hochbau spielt dabei eine wichtige Rolle, so wie beispielsweise bei Mies van der Rohes IIT-Campus-Bauten in Chicago (1943-57) oder der in der Brutalismusrezeption geradezu ikonisierten Hunstanton Secondary School der Smithsons in Norfolk (England, 1949-54).

Einen theoretischen Erklärungsansatz, der stellenweise auch normativ wirkte, lieferte der englische Architekturhistoriker Reyner Banham in seinem Buch ‚The New Brutalism: Ethic or Aesthetic?‘ (1966). Gleichzeitig markierte er mit seinem Versuch einer architekturgeschichtlichen Klassifizierung das Ende der ‚heroischen Phase‘ des Brutalismus und den Übergang in eine vor allem von Rezeption und epigonalem Nacheifern geprägten Architektur, die sich in einer gewissen Konkurrenz zur aufkommenden Postmoderne hielt. Banham sah im architektonischen Brutalismus eine Beziehung zum früheren Brutalismus in der Kunst, weshalb er den Begriff um das Attribut ‚neu‘ erweiterte. Konkret vereinte er die Merkmale einer spröden Erscheinung mit der ästhetischen Wirkung ungeschmückt zur Schau gestellter Materialoberflächen und Bauteile sowie mit der offenkundigen Verdeutlichung und Betonung von Funktion.

In dieser späten Phase war der Brutalismus geprägt von Komplexität, Übertreibung und Bildhaftigkeit, die zunehmend die charakteristische Schlichtheit und Direktheit ersetzten. Der Wunsch, durch das Architekturerlebnis auch verstörende Emotionen hervorzurufen, gewann an Bedeutung. Vermutlich war dies gemeint, als Banham in seiner Definition der brutalistischen Architektur auch ein Konzept der Einprägsamkeit thematisierte, wonach die intensive visuelle Wirkung des Gebäudes auf den Menschen betont werden sollte (vgl. Banham 1955, S. 354ff.). Die Merkmale des neuen bzw. späten Brutalismus wurden jedoch auch von Henry-Russell Hitchcock anschaulich gefasst, als er in seinem als Standardwerk zur Geschichte der modernen Architektur zu lobenden Buch schrieb, der Brutalismus sei geprägt von „… gebrochene[n] Silhouetten, ungleichmäßige[r] Skylines und von Massen, die eher gegliedert als vereinheitlicht [seien], und [durch] die expressive Zurschaustellung einzelner Strukturelemente, die oft eher skulpturalen als mechanistischen Charakter [hätten].“ (Hitchcock 1977, S. 579)

Eine wichtige prägende Rolle im Brutalismus spielte zudem der für die Gesellschaft neu entdeckte und wieder betonte Außenraum, gleichsam der Raum, der sich zwischen den Gebäuden und Infrastrukturbauten aufspannt und zu einer Begegnungs- und Interaktionsfläche wird. Insbesondere bei Banham wird deutlich, dass der Brutalismus in der Architektur eng mit einem gesellschaftspolitischen Ideal verbunden ist, das sich wiederum mit der Entwicklung des Wohlfahrtstaates in Einklang bringen lässt. Nicht zufällig gehören zu den beeindruckendsten Ergebnissen des Brutalismus Bauwerke wie Schulen, Krankenhäuser, Verwaltungsgebäude staatlicher Institutionen, die allesamt die Präsenz eines stärker dem Bürger zugewandten Staates verkörpern.

NB: Dieser Versuch einer Definition des Brutalismus verdankt sich im Wesentlichen der konzisen Arbeit von Patrick Goode und seinem Eintrag in dem von ihm herausgegebenen ‚The Oxford Companion to Architecture‘ (London 2009, Bd. 1, S. 115) sowie einem Beitrag von Wojciech Niebrzydowski zur IOP Conference Series ‚Materials Science and Engineering‘ (Wojciech Niebrzydowski 2020 IOP Conf. Ser.: Mater. Sci. Eng. 960 022056).