
Epoch in being
Die Spannungen der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg drücken sich besonders eindrücklich in den Spannungen der Kulturlandschaft aus. Insbesondere in der Architektur wird die Redundanz erschöpfter Stilwiederholungen und Stilinterpretationen herausgefordert. Entscheidend ist die Suche nach Antworten auf die sich rasch verändernde Lebenswirklichkeit des frühen 20. Jahrhunderts. Der Bruch mit der baugeschichtlichen Tradition wird kaum deutlicher, als im Werk des Berliner Architekten und späteren Bauhaus-Gründers Walter Gropius. So steht sein 1914 fertiggestelltes Fagus-Fabrikgebäude in Alfeld an der Leine am Beginn der Moderne. Gerade die Leichtigkeit und Eleganz des bahnbrechenden Entwurfs bietet eine Antwort auf die bislang mit rhetorischen Mitteln gehandhabte Frage der Repräsentation und offeriert zugleich einen neuen Ansatzpunkt für die vom Industriezeitalter beförderte Zweckmäßigkeit. Gropius‘ Bauwerk ist jedoch mehr als die Epigone eines Aufbruchs. In sich schließt es die Dramatik seiner Zeit ein, denn Spuren überkommenen Denkens und neuer Ideen mischen sich auf harmonische, ja subtile Weise zu einem neuen Ganzen. So stehen einerseits die großen Glasflächen, die schwebenden Podeste der Treppenhäuser und der knappe, scharf geschnittene Dachabschluss als Inkunabeln eines modernen Bauens neben den versteckten Hinweisen auf die nach wie vor wirksame Bautradition. Gerade darin spiegelt sich der Charakter jener Zeit am Vorabend des Weltkrieges als einer epoch in being, einer Epoche im Werden also mit all den Spannungen jener Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die sich nur kurze Zeit nach Fertigstellung des neuen Fagus-Werks in den Abnutzungsschlachten des Großen Krieges auf brutalste Zeit offenbaren wird.

Assoziation und Abstraktion
Gropius begründet mit seiner Fabrikarchitektur den architektonischen Teil eines radikalen kulturellen Aufbruchs, doch verkörpert sein Werk Beziehungen zur Tradition Behrens oder gar Schinkels. So stellt vor allem die lineare Strenge seiner kubischen Bauten, die selbst inmitten der fundamentalen Wende des Bauens zu einem prägenden Merkmal wird, eine Reminiszenz an die Klarheit und Strenge im Klassizismus Schinkels. Doch auch die Details des Fagus-Werks offenbaren Bezüge zur Baugeschichte, die noch einmal das Werden einer neuen Epoche unterstreichen und die selbst die Entwicklung der radikalen modernen Architektur in eine baugeschichtliche Kontinuitätslinie stellen. Bekannt ist der aus geometrischen Reduktionen resultierende Türgriff, die Dominanz einfachster Formkombinationen und die Betonung stereometrischer Körper, doch stellt sich dem die ornamentale Qualität etwa des genieteten Türblattes der metallenen Eingangstür zur Seite. Während die Großform und das Gesamtbild in das neue Jahrhundert weisen, finden sich in den kleinen Maßstäben der Ausstattung und Detaillierung noch zahlreiche Bezüge zu historischen Formvorstellungen. Aber auch im Raumeindruck lassen sich diese Bindungen erkennen, insbesondere wenn man den überaus feierlichen Eingangsraum betritt, der seine Konturen keineswegs im gleißendes Weiß der Wände neutralisiert, sondern dank der Abstraktionen klassizistischer Gliederungsformen strukturiert wird. Umgeben wird man von einem aus schwarzen Steinplatten in die Wand eingelegten Sockel, der von Leisten zusätzlich gegliedert wird und über dem in einer an Wagners Postsparkasse erinnernden Manier helle Wandfelder stehen. Den Abschluss dieser Felder bildet schließlich die Abstraktion eines unmittelbar auf die Architektur des Klassizismus verweisenden Triglyphenfrieses. Mit seiner schönen Ebenmäßigkeit unterstreicht dieser Fries die Geschichtlichkeit, die der im Fagus-Werk so mustergültig vertretenen frühen Moderne innewohnt. Erst in der charakteristischen Überlagerung von älteren Traditionen und fortschrittlichen Konzepten wird die Herausbildung eines epochalen Bruches greifbar und der Weg zu einer Kongruenz von Erfordernis und Mittel geebnet.