Psychologische Bildkomposition vs. hierarchische Struktur: Leonardos ‚Vergine delle Rocce‘

Leonardo da Vincis beide Fassungen der Felsgrottenmadonna sind ein besonderes Lehrstück kreativer Entwicklung, Ihre Entstehungsgeschichte zeigt, wie komplex und vielschichtig der künstlerische Entstehungsprozess ist.

Leonardo arbeitete an der ersten Version etwa von 1483 bis 1486, an der zweiten Version ab etwa 1495 und vollendete diese wohl um 1508. Die Gründe für die lange Arbeitszeit waren zum einen ein ausgeprägtes Experiment mit der Maltechnik, denn er perfektionierte in dieser Zeit seine berühmte Sfumato-Technik, die sanfte, rauchige Übergänge ohne harte Konturen schafft. Diese Technik erforderte viele lasierende Schichten und damit viel Zeit und Geduld.

Außerdem verband er mit der Arbeit an den beiden Werken sehr detaillierte Naturstudien, so war er fasziniert von Geologie, Botanik und atmosphärischen Effekten. Er beobachtete Felsen, Pflanzen und Licht sehr genau und wollte dies in einer nie dagewesenen Präzision darstellen.

Die lange Arbeitszeit hatte aber auch durchaus profane Gründe, nämlich Auseinandersetzungen mit dem Auftraggeber: Die Bruderschaft der Unbefleckten Empfängnis in Mailand, die das Bild für ihren Altar bestellt hatte, geriet in Streit mit Leonardo um Bezahlung und künstlerische Ausführung. Das verzögerte die Fertigstellung zusätzlich.

Dass dann zwei Versionen entstanden hat auch mit dem Auftraggeber zu tun, denn die Bruderschaft erwartete ein traditionelles Altarbild mit klarer, frommer Darstellung von Maria und dem Jesuskind. Leonardos erste Version war ihnen zu ungewöhnlich, fast mysteriös, mit komplexer Gestik und einer geheimnisvollen Atmosphäre, die durch das besondere Sfumato noch verstärkt wurde. Sie lehnten daher die volle Bezahlung ab.

Aus diesem Konflikt heraus erstellte Leonardo zusammen mit seinen Mitarbeitern eine zweite Version, die konservativer war. Diese zeigte deutlichere Gesten (z. B. der Engel, der auf Johannes den Täufer weist) und wirkte insgesamt frommer. Diese Version wurde schließlich in der Kirche aufgestellt.

Unter dem Gesichtspunkt der künstlerischen Entwicklung sind beide Werke allerdings ein Glücksfall (ähnlich wie bei Sempers Oper in Dresden, die er zwei Mal bauen durfte), denn die beiden Fassungen spiegeln Leonardos Entwicklung wider. Die erste ist dunkler, atmosphärischer und experimenteller; die zweite ist heller, feiner ausgearbeitet und stärker auf traditionelle Andacht ausgerichtet.

Leonardos Schöpfungskraft spiegelt sich auch in der Komposition wider, die ja bekanntlich entscheidend für jedes Bild ist, sei es gemalt oder fotografiert. Leonardo verwendete nämlich eine seinerzeit innovative Komposition ohne klaren zentralen Fokus: Üblicherweise waren Altarbilder dieser Zeit sehr stark hierarchisch aufgebaut, oft mit einer einzelnen zentralen Figur. Leonardo durchbrach dies mit einer pyramidalen Komposition, in der vier Figuren (Maria, Christus, Johannes der Täufer, Engel) eine dynamische, geschlossene Gruppe bilden.

Dadurch schuf Leonardo keine übliche formale, sondern vielmehr eine psychologische Einheit: Anstatt eine Figur in den Mittelpunkt zu stellen, betonte Leonardo die Interaktion zwischen den Figuren — ihre Blicke, Gesten und stillen Verbindungen schaffen eine psychologische Tiefe. Damit betonte er die Natürlichkeit der Beziehungen statt Hierarchie: Leonardo wollte die heiligen Figuren in einem glaubhaften, natürlichen Raum zeigen, nicht isoliert auf goldenem Hintergrund. Diese Hinwendung zur Natur und zur menschlichen Dimension ist ein Ausdruck seiner wissenschaftlichen Neugier und seines Humanismus.