Der Brutalismus in der Architektur war keine Erfindung des Architektenehepaars Smithson und keine Kanonisierung Reyner Banhams. Wie inzwischen bekannt ist, gab es erkennbare Vorläufer sowohl in der Gedankenwelt als auch in konkreten Baubeispielen, die den Brutalismus, wie ihn die Smithsons 1953 erstmals bezeichnet hatten, in der Zeit des modernen Aufbruchs in der Architektur verankern. Insbesondere Le Corbusiers seit den 1920er Jahren verwendete Begrifflichkeit brut antizipierte mit ihrer Betonung des Herben, Rauen, Ursprünglichen eine emotional aufgeladene Architektursprache. Dabei ging es vor allem um die Wirkung, die bestimmte Materialien, und der Umgang mit ihnen, erzeugen. Der extremen Ästhetisierung, wie sie die um Formschönheit bemühte Klassische Moderne kultivierte, stellte Le Corbusier mit brut das Werden der Form entgegen. Die Architektur wurde ihrer Umwelt nicht mehr durch Überhöhung entrückt, sondern durch herausstellen der Funktion und der Bauweise den „komplexen Beziehungssystemen menschlicher Gesellschaft“ (Busse 2017,S. 33) näher gebracht.
„Unverkleidet, unverfälscht, echt, authentisch, aber auch roh und direkt – das waren die Adjektive,“ die von Architekten und Künstlern wie Le Corbusier, Alvar Aalto, Marcel Breuer und Max Bill benutzt wurden, um die „geistige und kulturelle Dimension ihrer Entwürfe,“ zum Beispiel für den Pavillon Suissein Paris, das UNESCO-Ratsgebäude ebenfalls in Paris, die HfG in Ulm oder das MIT-Dormitory in Cambridge, “ verständlich und greifbar zu machen. Die Gestalt sollte ohne Rhetorik das Innere nach außen kehren, Kraftverläufe und Prozesse sichtbar machen und damit eine „unbestreitbare Realität jenseits der puren Form erzeugen.“ (Busse 2017, S. 37) Prinzipien und Merkmale, die später für den Brutalismus charakteristsich wurden und eine neue internationale Architekturströmung begründeten, die bis zur Energiekrise 1973 weltweit Bauwerke von gewaltiger expressiver Kraft hervorbrachte und die Architektur zu einem letzten Hurra handwerklicher Bauornamentik beflügelte, bevor sie durch neue ressourcenbezogene Zwangslagen und Gesetzgebungen zur Energieeinsparung in ein technoides Korsett gezwungen wurde.
Geistige Vorläufer einer Architektur des Brutalismus als eine Architektur des Unmittelbaren und Authentischen lassen sich unter anderem in Auguste Pugins True Principles (1841), John Ruskins Of General Principles and Truth (1843) , Hermann Muthesius‘ Kunst und Maschine (1902) und Hendrik Berlages Thoughts on Style (1909) finden. Es wird deutlich, dass der Brutalismus der Nachkriegszeit eine tiefe Verankerung im Zeitalter der Industrialisierung und der damit verbundenen Wandlung der Gesellschaft hin zu einer Gesellschaft der Massen mit eigener Kultur hat. Durch Bauwerke, die schon vor der expliziten Fixierung einer brutalistischen Haltung nach deren Prinzipien realisiert wurden, liegen Stichproben einer proto-brutalistischen Strömung innerhalb des breiter angelegten Aufbruchs der architektonischen Moderne vor. Die noch ausstehende wissenschaftliche Verortung dieser Strömung verspricht, zur weiteren Verfeinerung des Moderneverständnisses beizutragen.
Quellennachweis: Busse, Anette: Von brut zum Brutalismus – Die Entwicklung von 1900-1955, in: Elser, Oliver – Kurz, Philip – Cachola Schmal, Peter (Hg.): SOS Brutalismus – Eine internationale Bestandsaufnahme. Zürich 2017, S. 32-37.